Unterwegs.

18. November 2018

Die uralte Tante schaut staunend in die muntere Runde. Die hippe Bar ist proppenvoll und laut, alles schwätzt, lacht, trinkt, isst. Janz schön wat los hier!, sagt sie im Vorbeigehen zu dem ebenso hippen jungen Kellner. Der verdreht nur die Augen. Is ma wieda typisch, jezz brummts, aber den janzen Nachmittach war sooo tote Hose, ick hab hier nur rumjestanden und mir die Eia jekrault. Die 85jährige Tante stutzt nur kurz, dann lacht sie und lotst mich zu einem der letzten freien Plätze.

Ja, Sie ahnen es, wir sind nicht im Odenwald. Wir sind in Berlin. War mal wieder Zeit, das Tantchen zu besuchen. In meiner Heimatstadt, quasi. Ich habe das im Übrigen gleich verbunden mit einem akustischen Auftritt im Radio, ich habe ja da so eine Mission, und es gab da so eine Sendung beim DeutschlandRadio.

Da verbrachte ich also einen Vormittag, im Gespräch mit der Moderatorin in Köln und anderen Teilnehmern der Sendung, quer durch die halbe Republik, aber eben mutterseelenallein in einem Berliner Hörfunk-Studio. Wunder der Technik. So gesehen bin ich das ja gewöhnt. Wenn Sie mal reinhören wollen, bitte sehr, der Klick aufs Bild führt Sie direkt zur Sendung:

Klick aufs Bild, husch, zur Sendung.

So gehe ich also schon am frühen Morgen durch Wilmersdorf und Schöneberg, zu Fuß, der Morgen ist kalt und herrlich klar, es ist nicht viel Verkehr, es riecht, wie es immer riecht in Berlin, und aus einigen Hauseingängen kommen alte Männer und Frauen mit ihren Dackeln und Pinschern und schlurfen lustlos Richtung Grünfläche. So, wie es alte Männer und Frauen seit Jahrhunderten in Berlin getan haben und noch Jahrhunderte tun werden.

Berlin und ich, wir haben uns ja seinerzeit im Streit getrennt. Zumindest war ich froh, dass ich endlich wegkam. 25 Jahre Berlin, eine Kindheit, eine Jugend, und ein bisschen Erwachsensein dazu, und alles im ungerechten Rückblick schrumpelig und trist, um es mal vorsichtig zu formulieren. Ich nahm also meinen Rucksack, den tatsächlichen und den übertragenen, und ging. Und kehrte nie wieder an jene Ort in dieser riesigen Stadt zurück, die das Leben so trist und schrumpelig gemacht hatten. Naja, Sie wissen schon. 

Natürlich war ich ein paar mal in Berlin in den vergangenen Jahrzehnten, das bereits erwähnte  uralte Tantchen besuchen, das ich von Herzen liebe und das gottlob in einer anderen Ecke Berlins lebt. Das Ur-West-Berliner Tantchen, das bis heute insgeheim nicht verstehen kann, wieso ich aufs Land gezogen bin, verblödet man da nicht?, fragte sie früher regelmäßig in ihrer unnachahmlich diplomatischen Art. Inzwischen hat sie resigniert. Aber ansonsten ist sie wirklich liebenswert. Ihren weltgewandten Freunden und Bekannten stellt sie mich als die Nichte aus dem Odenwald vor, und schiebt sofort ein energisches Natürlich born and bred in Berlin! hinterher, aber sowas von!

Seit knapp 30 Jahren also mache ich einen großen Bogen um die Orte meiner Kindheit, meiner Jugend. Den Rucksack habe ich zwar seinerzeit ja mitgenommen, aber ich hab noch einen Koffer in Berlin, lalaa, die Schrumpligkeiten/vergang’ner Zeiten, die hab ich alle in dem kleinen Koffer drin, naja, Sie kennen derlei Koffer vielleicht.

Genau gesagt, steht mein Koffer in Berlin Neu-Westend. Da fuhr früher die legendäre Linie 1 hin, aber inzwischen heißt sie U2 oder irgendsowas, jedenfalls fahre ich zielstrebig und mit ein bisschen flauem Gefühl im Magen Richtung Westend. Wittenbergplatz, Zoo, Ernst-Reuter-Platz, Oper, Theo, Westend, mal in der Kurzform. Mit der U-Bahn in die Kindheit, in die Jugend. Zum ersten Mal nach 30 Jahren.

Beim Aussteigen aus dem miefigen U-Bahn-Waggon habe ich kurz die Angst, Neu-Westend könnte jetzt gleich zu einem veritablen Haken ausholen, zu einer strammen Linken, und mir ordentlich eins in die Magengrube geben. Stattdessen nimmt das Viertel mich in seine Arme, die so runzlig sind wie die Damen, die immer noch im Wiener Caffeehaus sitzen, mit ein bisschen zu blonden Haaren und ein bisschen zu goldenem Schmuck, und die auch hier drinnen früher ihre Pelzhüte nicht von der frisch ondulierten Frisur nahmen.

Ich gehe die Wege, die ich 25 Jahre lang gegangen bin, ewig weit habe ich sie in Erinnerung, aber ich gehe wie mit Siebenmeilenstiefeln, die Kilometer aus der Erinnerung schnurren zu kurzen Distanzen zusammen, die Reichsstraße herunter, schon bin ich am Brixplatz.

Was in meinem Kopf riesengroß war, ist in Wirklichkeit winzigklein. Die Straße, die Häuser, der Spielplatz, der Park. Und völlig unverändert, auch nach 30 Jahren noch. An manchen Klingelschildern entdecke ich wohlvertraute Namen, auf dem Spielplatz sehe ich die Holzdächer, von denen ich mehr als einmal beim unerlaubten Klettern runtergeflogen bin, und im Park die Seen, in denen ich unfreiwillig schwimmen gelernt habe, zwischen Enten und grüner Grütze.

Komm, sagt Neu-Westend, wir gehen noch mal Deinen Schulweg, Du kennst ihn ja. Zwölf Jahre bin ich den gegangen, schlafwandlerisch. Auch hier kommt mir alles plötzlich winzig vor, winzigklein und unverändert, als sei das Viertel geschrumpft und die Zeit stehengeblieben.

 

Ick kieke, staune, wundre mir und gehe zurück, vorbei an der kleinen Kapelle der Engländer, am Kloster, über die Preußenallee also, wo immernoch zweimal die Woche Markt ist.

Wiener Caffeehaus, Cafe Kuhn und Westend-Klause, alles wohl vertraut und alles unverändert. Und alles winzigklein. In einer Mischung aus Verwunde- und Erleichterung tauche ich wieder in den gallegrünen U-Bahnhof ein. Hier!, ruft Neu-Westend mir hinterher, nimm Deinen Koffer mit, er ist ja gar nicht mehr so schwer. 

Zurück in Schöneberg muss ich der Tante natürlich berichten. Neu-Westend war ja immer furchtbar spießig!, sagt sie in ihrer bereits erwähnten diplomatischen Art. Ja, aber es wirkt auch so winzig, ist das Viertel geschrumpft oder was?, frage ich ratlos. Nee…, sagt die Tante, vielleicht bist Du aber ganz gross geworden.

Und dann gehen wir zum Essen, wieder in die hippe Bar mit dem Typen mit den jekraulten Eian. Die  85jährige Tante will es so, ick bin jespannt, wat der heute wieda so vom Stapel lässt. Dafür liebe ich Berlin. Und vielleicht kann ich mich ja jetzt auch wieder mit Neu-Westend anfreunden.

 

 

 

  • 8 Kommentare
  • tiker 18. November 2018

    Ich kann nicht anders, als Dir dieses Gedicht hier zu lassen:

    BALIN, BALIN

    Ma wieda durch Balin jegangen,
    die Luft jeschnuppert, Atmosphäre einjefangen –
    Balin!
    Du – deine Hände sind abjearbeitet und blau
    wie bei eina – na! ich meine die Dingsda, die Frau,
    die wo immer die Kinda jebären tut – na!
    die Mutta!
    Balin!
    Einst jingste im Pelz.
    Nu hatta Löcha im Futta.
    Loch reiht sich an Loch –
    und doch!
    Und doch schleppste dia imma noch munta fort
    von Balin Süd bis Balin Nord,
    vom Kuhdamm bis zu ‘n Linden –
    Balin!
    Wenn et dia nich jäbe,
    man müßte dia erfinden.
    Wenn de nich schon erfunden wärst –
    et müßte dia jeben.
    Balin!
    Muß ick ooch fern von dia leben,
    mein Herz wohnt imma noch in –
    Dortmund? Nee!
    Duisburch? Nee bewahre!
    Mannheim? Da doch nich!
    Köln, Bonn, Kiel, Hamm, Hof, Graz, Wien?
    Ach wat! Mein Herz wohnt imma noch in
    Dusseldorf.

    ROBERT GERNHARDT

  • Franziska 19. November 2018

    Wieder sehr schön geschrieben mit tollen Photos dazu!

  • Astridka 19. November 2018

    Dieses Eingelaufene, das kenn ich auch. Umgekehrt.
    LG
    Astrid

  • Provinzei 19. November 2018

    Berlin ist klein.
    Das merkt man, wenn man mal tatsächlich durchläuft.
    Oder halt größere Strecken zu Fuß bewältigt.
    Das geht ! Vor allem es mußte, damals, nach der Wende.
    Weil man Nachts um 3 Uhr kein Taxi mehr fand, daß einen
    vom Osten in den Westen fuhr.
    Als der Prenzlberg noch abgerockt war, versifft, geil.
    Das sagten die Taxifahrer ” watt ? In Westn ?”
    Da hieß es laufen, nach Wedding. Nach ner Stunde oder so waren Wir dann in der Unterkunft.
    Berlin ist klein !

  • Rosi 20. November 2018

    oh ja..
    die Wege der Kindheit
    vertraut und doch ganz anders
    eingelaufen .. ;)
    mir ging es in meiner Heimatstadt nach noch mehr Jahren genau so

    sehr schöne Bilder
    und die Stimmung wunderbar eingefangen

    liebe Grüße
    Rosi

  • Die Schwalbe 23. November 2018

    Ohja, danke, mir hat’s super gefallen … hihi, dazu fällt mir auch noch der Text von Helga Hahnemann ein:
    Hundert mal hab ick Berlin erflucht,
    Hundert mal weit weg mein Glück jesucht,
    Hundert mal jeheult, Du machst mich krank,
    Hundert mal jebetet, jott sei Dank,
    Hundert mal jesacht,
    Mit dir is Schluss.
    Hundert mal kam ick von dir nich los,
    Hundert billen haut ein je nich hin,
    Dit sitzt zu tief, Dit sitzt hier drin.
    Liebe Grüße
    aus Chemnitz

  • Amelie 27. November 2018

    Hui, du warst in Berlin. Und da am Brixplatz… da hast exakt eine Stelle fotografiert, an der ich schon unglaublich viel Zeit verbracht habe.

    • LandLebenBlog 27. November 2018

      Oh, dann kennen wir uns vielleicht sogar? Ich habe an all den abgebildeten Stellen jedenfalls nahezu 25 Jahre verbracht.

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