Der Vater.

30. Oktober 2016

In diesen Tagen ist es vierzig Jahre her, dass mein Vater starb. Ich war damals neun und bin heute deutlich älter, als er je geworden ist, das ist schon etwas merkwürdig. Ich erinnere mich kaum, und wenn ich vor meinem inneren Auge Bilder von ihm sehe, weiß ich nicht, ob sie aus meinem Gedächtnis kommen oder aus dem Fotoalbum.

Allerdings gibt es nur sehr wenig Fotos, meine Mutter hat nach der Scheidung und ein paar Jahre vor seinem Tod alle Bilder aus den Alben herausgerissen, die leeren Stellen starren mich heute noch an, wenn ich, selten genug, im Album blättere. Ein paar Papier- und Klebefetzen und die leeren Stellen sind in den meisten Alben das, was von ihm geblieben ist, bis auf ganz wenige, uralte Ausnahmen.

dav
1954, Klinik in Heidelberg.

Ich habe dennoch ein paar ganz undeutliche Erinnerungen, die auch in Fetzen und verschwommen durch mein Hirn wabern, aber eines ist sicher: Mein Vater war so eine Art Spießer. Ein humor- und liebevoller, so erinnere ich mich diffus, aber eben sicher doch ein Spießer, konservativ und Mainstream, wie man heute sagen würde.

Aus einer sächsischen Ärzte-Dynastie, vor dem Mauerbau heimlich rübergemacht, Medizin studiert und dann das große Geld verdient, wie das damals halt so war, in den Sechzigern und Siebzigern. Der Halbgott in Weiß, dicke Villa in Berlin Neu-Westend, dickes Auto, Ivan Rebroff, Karel Gott und Wencke Myhre plärrten sonntags durch das Haus. Urlaube auf Bali, Spanien und Italien, das war damals noch nicht selbstverständlich, und nebenbei eine neue Frau mit Persianerjäckchen und goldenen Pantoletten finanziert, und drei nicht so neue, zurückgelassene Kinder mit monatlichen Überweisungen versorgt.

Ich war dabei, so bilde ich mir ein, sein Lieblingskind, ich war klein und brav, ich rebellierte nicht wie die größeren Geschwister, ich machte keine Vorwürfe. Ich war so, wie der Papi sich die Kinder wünschte. Ich wäre, wenn er länger gelebt hätte, brav geblieben, ich hätte Medizin studiert, hätte ein von ihm bezahltes Cabrio gefahren und hätte Polohemden in rosa und hellblau getragen, dazu eine Perlenkette, und nur die anständigsten jungen Männer mit nach Hause gebracht, aus denen auch mal dick was werden würde.

Darüber denke ich oft nach, wenn ich so durch den Odenwald fahre, in meinem verdreckten Hunde-Auto, oder wenn ich im Stall die Hühner füttere. Oder wenn ich, wie dieser Tage, in Heidelberg unterwegs bin. Hier haben die Eltern sich kennengelernt, eine Studentenliebe, ich hab mein Herz in Heidelberg verloren, naja, Sie wissen schon, hier haben sie geheiratet und gelebt, hier sind auch meine Geschwister geboren, bevor die Familie dann nach Berlin ging, damit der Vater dort am Martin-Luther-Krankenhaus Chefarzt werden konnte.

Wenn ich dann manchmal am Heidelberger St-Vincentius-Krankenhaus vorbeikomme, dort, wo seine Karriere begann, dann frage ich mich, wie enttäuscht er von mir wäre. Falscher Job, falsche Gesellschaft, völlig falscher Lebensmittelpunkt. Falsche Einstellung zu Macht, Geld und Karriere. Hunde, Hühner, dreckiger Blaumann und schwarze Fingernägel. Das Leben auf dem Lande. Er würde sich im Grab rumdrehen. Denke ich mir so. Und bedaure das ein bisschen. Man hat es ja doch gerne sehr harmonisch, auch im Rückblick.

Als ich dieser Tage wieder am Heidelberger Krankenhaus vorbeifuhr, auf dem Weg in eine große Stadt, da fiel mir ein Trick ein. Wer weiß denn, ob der Vater nicht den Odenwald geliebt hat? Viele Heidelberger lieben doch den Odenwald, die Stadt liegt ja am Fuße dieser Landschaft. Vielleicht ist er mit meiner Mutter und den Kindern an jedem freien Wochenende also hier hinauf gefahren? Vielleicht waren sie sogar am Katzenbuckel, bei mir um die Ecke sozusagen, zum Rodeln und Spazierengehen. Vielleicht kannte er Mosbach und Buchen, und vielleicht sind sie mit dem Käfer durch manches Dorf gefahren, durch das ich heute auch oft fahre.

Vielleicht war er sogar mal im Engel essen, hier in meinem Dorf. Das alles scheint mir plötzlich gar nicht mehr so abwegig, ja, er hat den Odenwald bestimmt gekannt und auch gemocht, und ganz bestimmt würde er sich heute freuen, dass ich hier gelandet und angekommen bin, Medizinstudium hin, Perlenkette her. Ja, ganz bestimmt, so war es.

Väter wird man offenbar nie los. Und man hat es ja doch gerne sehr harmonisch, auch im Rückblick.

 

 

 

  • 9 Kommentare
  • Micha 30. Oktober 2016

    Danke für die Offenheit – wie gut nachvollziehbar du bist.
    Ich hatte mir eine regelrechte Herkunft um meinen Großvater gesponnen, festgemacht an einer herausgepickten Fotographie, denn er starb vor meiner Geburt. Und verwoben mit einer handvoll zurecht gerückter Geschichten, die über ihn erzählt wurden. Familienbande – so gerne eingepackt in Mythos!

    • LandLebenBlog 31. Oktober 2016

      Daran mag auch nichts Verkehrtes sein. Es darf nur natürlich nicht eines Tages ein “böses Erwachen” geben, wenn irgendein Mythos in sich zusammenbricht.

  • Peer van Daalen 30. Oktober 2016

    Ganz lieb geschrieben, … ich spüre jedoch oft hier in meinen alten und jüngeren Umfeld, daß die sogenannten “Aussteiger” von gestern, die “Spießer” von heute geworden sind, insofern das füttern von Hühnern im Odenwald auch nicht zwingend der Progressivität letzter Weisheit-Schluß sein muß.

    Vielleicht wäre Dein Vater heute trotzdem Stolz auf Dich, weil Du ihn ohne Worte gelehrt haben könntest, ein anderes! Leben führen zu können und trotzdem glücklich zu sein …

    Mein Vater starb hoch verschuldet als ich 33 Jahre alt war, eine Woche nachdem er den ersten Burger-King-Hamburger seines Lebens in Neukölln gegessen hatte. Glücklicherweise hat das nicht an dem Burger gelegen.
    Zu viel gebracht hatte er es nie … Eher weniger … :-).

    Peer grüßt

    • LandLebenBlog 31. Oktober 2016

      Oh weh, die Sache mit dem Burger gehört ja in die Kategorie: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Und was die Aussteiger angeht: als solchen betrachte ich mich zumindest gar nicht, mich zog es halb, halb sank ich hin, ich bin ja zunächst nur wegen des Jobs aufs Land gegangen, nicht um auszusteigen. Wobei das eine mit dem anderen natürlich schon ziemlich verbunden war. Und dass die Aussteiger von einst die Spießer von heute sind, das mag in vielen Fällen tatsächlich so sein. Es ist kompliziert.

  • christiane 31. Oktober 2016

    Mein Vater ist letzten Freitag gestorben. Das war ziemlich scheisse. Ich habe ihn sehr geliebt, trotz Meinungsverschiedenheiten. Und los werde ich ihn vermutlich auch nicht werden. Ich bin bei Ihnen. Das ist ein sehr schöner Artikel, danke dafür.

    • LandLebenBlog 31. Oktober 2016

      Oh, das tut mir sehr leid. Danke, dass Sie trotzdem (oder gerade deswegen) hier kommentiert haben.

  • Anna Schmidt 31. Oktober 2016

    Nein, die Väter wird man niemals los. Aber er hätte dein Leben heute verstanden, weil er deine Entwicklung miterlebt hätte und du ihm erklären könntest, warum Polohemden und Perlenketten nix für dich sind. Ich verarbeite meinen Vater, der vor 18 Jahren starb, heute noch. War seine dominante oder die liebevolle Seite prägend für mich? Ich bin im gedanklichen Dialog mit ihm und es stört mich nicht, weil ich weiß, dass ich ganz viel mit ihm zu tun habe. Aber ich hadere auch nicht mehr, weil es mich nicht vorwärts bringt. Ich denke, wir müssen mit unseren Schatten leben, aber nicht in ihnen stehen, oder? :-)

    • LandLebenBlog 31. Oktober 2016

      Sehr schön gesagt! Danke!

  • Pingback:Anderswo: Black Box (prototyp) I | Fädenrisse

Vorheriger Artikel Fritz und Friedbert.
Nächster Artikel Lurchi.