Waidmannsheil.

17. Januar 2016

Ich habe da ein Foto bekommen, hier aus dem Odenwald, das erinnert mich an eine Geschichte, die ich ohnehin schon längst erzählen wollte. Das besagte Foto finden Sie ein bißchen weiter unten, wenn Sie schwache Nerven haben, sollten Sie es definitiv nicht angucken. Ich hatte hier schon wegen deutlich harmloserer Fotos böse Beschwerden, inbesondere von zartbesaiteten Großstädtern, deswegen die ernstgemeinte Warnung. Sagen Sie hinterher nicht, Sie hätten es nicht gewußt.

Was ich also eigentlich erzählen wollte: Ich bin da neulich so für mich im Odenwald unterwegs, in der hintersten Ecke des hintersten badischen Odenwaldes, hart an der Grenze zu Bayern, als es im Unterholz raschelt. Das ist nun im Odenwald weiß Gott nichts Ungewöhnliches, aber ich schaue doch in die besagte Richtung und sehe auf einer Lichtung vor mir plötzlich einen kapitalen Hirschen stehen. Der sieht mich auch, schwenkt sein riesiges Geweih freundlich hin und her, wie zum Gruß, und geht dann seiner Wege. Ihm folgen, im Gänsemarsch, – wenn man das bei Hirschen denn so nennen darf – Hirschkühe und junge Hirsche in schier endloser Reihe. Ich kann sie nicht einzeln zählen, aber es sind gefühlt mindestens 25 oder 30 Tiere, keine zwanzig Meter weit entfernt von mir, in aller Seelenruhe.

Erst bin ich stumm vor Schreck, dann flüstere ich lautstark dem Hund zu, er solle sich dieses Schauspiel doch bitte begucken, Lieselotte interessiert sich aber nicht die Bohne, sondern sucht weiter nach Mäusen. Also stehe ich alleine mit dem in entgegengesetzte Richtung zerrenden Köter und glotze und sage Wow! und Wahnsinn! in die Stille des Waldes. Der Hund buddelt, die Rotwildkarawane zieht weiter.

Ich lebe ja nun schon eine Weile im Wald, und ich habe einmal in all den Jahren eine Vollbremsung wegen dreier, über die Fahrbahn galoppierender Hirschkühe hinlegen müssen, aber sowas wie neulich habe ich noch nie gesehen. Und ich kann Ihnen sagen: das war so ziemlich das Unglaublichste und Erhabenste, was ich seit langem erlebt habe, da draußen.

Und dann bekomme ich heute dieses Foto, das ist auch unglaublich, aber gar nicht erhaben, aber aus genau der Ecke, in der ich vor gut einer Woche die wundersame Begegnung hatte.

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Ein kopfloser Hirsch im Gelände, berichtet der Finder, im Unterholz entdeckt und per Händi fotografiert. Vielleicht ist es der stolze Anführer der riesigen Gruppe, die ich beobachtet habe, und vielleicht hängt die Trophäe schon an irgendeiner Wohnzimmerwand. Vielleicht waren da Wilderer am Werk, ja, sowas gibt es im Odenwald, man hört das immer wieder mal. Vielleicht auch ein fehlsichtiger Jäger. Nicht vernünftig getroffen, der angeschossene Hirsch elend lang verletzt im Wald unterwegs, bis er schließlich verendet ist. Dann endlich gefunden, das Fleisch längst verdorben, und nun wenigstens die Trophäe abräumen und stolz an die Wand hängen.

Ich bin ja durchaus für ein gutes Stück Wild in der Pfanne zu haben, wenn es denn verantwortungsbewußt er- und zerlegt worden ist. Aber ich glaube, das Foto da oben finde ich nur noch zum Kotzen. Bis mich jemand nachvollziehbar vom Gegenteil überzeugt.

 

  • 11 Kommentare
  • Schwarzes_Einhorn 17. Januar 2016

    Ja es ist schlicht zum Kotzen. Ich habe sowas auch schon mal gefunden, ein Rehbock, der neben der Straße lag – der Kopf fehlte. Daß es ein RehBOCK war, war an anderen Dingen zu erkennen… Ich habe den Fund gemeldet und die Polizei meinte, da wäre wohl jemand auf den Kopf scharf gewesen.

    Aber so ein Rudel Hirsche hätte mich bestimmt auch andächtig verstummen lassen. Ich war schon nachhaltig beeindruckt, bei einem Ausritt zwei Rehkitze beim Spielen beobachten zu können – sowas hatte ich noch nicht mal im Film gesehen…

  • Andus Emge 17. Januar 2016

    Jahre bevor ich diesen entwürdigten kopflosen Hirsch im Unterholz fand, hatte ich zwei Erlebnisse, die mich als Städter hier im Odenwald lange prägten: Als junger Junge durfte ich Mitte der 1960er Jahre das erste mal alleine den Bauern auf der Watterbacher Höhe bei der Weizenernte helfen. Damals gab es noch keine Mähdrescher, sondern die geschnittenen Ähren wurden mit lila Kordeln mit Holzknebeln zum Nachtrocknen zusammengebunden und aufgestellt. Es war ein anstrengender Sommertag für mich, da ich ja so was das erste mal so richtig miterlebte. Abends dann, als die Bauerfamilie nach Hause fuhr, nahm ich eine direkte Abkürzung nach Hause durch eine Schonung. Dort stöberte ich plötzlich und unerwartet einen gewaltigen Hirsch auf, der noch ruhend auf dem Boden kauerte. Keine zwei Meter von mir sprang dieser mit seinem gewaltigen Geweih auf und war wohl genauso erschrocken wie ich. Dies Ereignis hatte sich somit bei mir (und womöglich auch ihm) gut eingeprägt.

    Jahre später, ich war schon längst in meiner zweiten Lebenshälfte angekommen, träumte ich irgendwie bedeutungsgeladen von Hirschen und dachte mir später, dass ich ja lange keine lebendigen Hirsche mehr hier im Odenwald in freier Wildbahn gesehen hätte. Es kommt so wie es wohl kommen sollte, denn auf der Wanderung durch den Wald am Nachmittag des selbigen Tages kam ich an die Grenze eines alten lichten Buchenwaldes, in dem kaum 50 Meter entfernt ein Rudel von 8 Hirschen seine sozialen Rangordnungen zu regeln schien. Die Hirschkühe standen aufmerksam zusammengluckend in einer kleinen Gruppe und begutachten das Treiben der männlichen Junghirsche, die sich laut mit ihren Geweihen stoßend in Kommentkämpfen und anderen Rangeleien zu ertüchtigen suchten. Diesem Cervus-Schauspiel folgte ich bedächtig sinnierend für einige Minuten und reflektierte dabei den Traum der vorherigen Nacht. Das mit sich selbst beschäftigte Rudel hatte mich nicht entdeckt und so gingen die würdigen Tiere gelassen ihren Tätigkeiten nach. Erst einige Zeit später entdeckte ich hoch oben im Wald den gewaltigen Platzhirsch, der alles mit einem gewissen Abstand zu überblicken schien. Dieser hatte mich von seiner Position aus wohl längst bemerkt, schien aber durch meine Anwesenheit komplett unbeeindruckt und so war ich wieder einmal froh, nicht wichtig genommen worden zu sein.

    • LandLebenBlog 17. Januar 2016

      Sehr schöne Geschichten. Und zu dem Foto (danke dafür) das passende Wort, das ich nur gefühlt hatte, aber nicht benennen konnte: “entwürdigt”. Genau so.

  • meertau 17. Januar 2016

    Menschen, die die Welt irgendwie nicht braucht. Egal ob in der Stadt oder auf dem Land.
    Hier auf der Insel gibt es eigentlich nur Rehe, so dachte ich. Bis ich letzte Woche eine Herde Damwild sah, angeführt von einem großen Damhirsch mit beeindruckenden Geweih. Ich habe mir fünfmal die Äuglein gerieben, während mein Fräulein starr vor Erstaunen mit mir da herumstand.
    Seit ich am Folgetag die Insel via Zug verließ, weiß ich auch, wo die Herde schläft :-)
    Wie kann man nur so blind für die unglaubliche Schönheit dieser Tiere sein und einfach auf Trophäenjagd gehen?

  • Andus Emge 17. Januar 2016

    Der unwürdig geköpfte Hirschkadaver ist nun weg. Vertuscht. Eine ISIS Fahne wurde auch nicht gefunden. Diese Waidmannstat ist ein großer Frevel, eine Schande, aber womöglich liegt das Ganze in der Natur der Sache. Ein Versagen des Jägers.
    Nach all dem, wie diesem Cerviden geschehen sein mag, hätte man den um die Trophäe gekürzten “nutzlosen” Rest allerdings zumindest als Aas den lokalen Wildsäuen und anderen sich daran labenden Tieren überlassen können, anstatt es in einer Tierbeseitigungsanstalt anonym und energieaufreibend schreddern zu lassen, wie dies die Verordnungen vorgeben.
    Jetzt im Schnee hätte diese Natur der Sache sicher interessante Spuren gegeben. Tatsächlich aber will ich ja heimlich immer noch einmal Canis Lupus zum Wolfsbrunn locken. ;) Dem wär so ein Fund sicher auch gelegen ….

  • waswegmuss 18. Januar 2016

    In letzter Zeit habe ich mir eine Erfucht vor dem Tier angewöhnt, die mich etwas ängstigt. Zur Albert-Schweitzerschen Erfurcht vor dem Leben langt es aber noch nicht. Trotzdem hat sich der Schweinefleischintake um 90% reduziert.
    Ohne Abschweifung:
    Jedenfalls sollte ein getötetes Tier auch gegessen werden. Sein Gehörn sollte zum Lobpreis der Götter auf die Gemüse- und Obstbeete gehobelt werden.
    Tote Schädel an der Wand sind ganz schlechtes Feng Shui.

  • Andus Emge 18. Januar 2016

    Das Geweih zu hobeln scheint mir fast so wie Elfenbein zu verbrennen. Eine Missachtung der Schöpfung. Auch ein Frevel. Wir brauchen keine Multi-Ender Trophäen mehr an den Wänden. Aber Geweihe sind Kunstwerke der Natur und sind diese besonders, so sollten sie auch erhalten und beachtet werden. Vielleicht auch im Sinne des Feng Shui? Es kommt wohl immer auf die Sichtweise der “Trophäe” an. Auch mit abgeschnittenen Elefantenschwänzen posieren wie der Junior Trump, das geht auch nicht mehr….

    • waswegmuss 19. Januar 2016

      Naja, Hornspäne sind ein hervorragender Stickstoffdünger. Die echten stammen übrigens von Longhorns.
      Was diese Geweihe in der Wohnung betrifft: Ich habe ernsthafte Probleme dem Tod zur Ansicht; so erhaben er sein will.

  • Provinzei 19. Januar 2016

    Jetzt mal keine Heuchelei hier.
    Wir, oder zumindest ich, bringe jeden Tag durch mein Leben,
    bewusst oder unbewusst, massig Natur um die Ecke.
    Da reicht ein neuer Autobahnzubringer.
    “Oh, wie geil, da bin ich ja viel schneller hier und dann dort.”
    Was infolge dessen an Tieren, Pflanzen, Geistern und sonst noch vertrieben wurde geht auf keine Kuhhaut.
    Alleine Unsere Existenz auf dieser Erde reich schon, um massenhaft Schaden an zu richten.
    Also, Kopf senken, Demut zeigen, mitdenken.
    Und kein Betro#ffenheitsscheiß@com.de

  • Christina Schneider 7. Februar 2016

    Förster, Jagdpächter und zahlende (!) Jäger sind bestrebt, das Wild waidgerecht zu versorgen. Dazu gehört, dass man dem Tier nach dem Schuss mit Respekt begegnet, sich selbst demütig zeigt. Verantwortungsvolle Schützen lassen keinesfalls ein Tier liegen, sondern es wird vor Ort versorgt und die Trophäe (d.h. Gehörn oder Geweih) erst zuhause abgenommen. Das Fleisch ist eine wertvolle Ressource und wird vollständig genutzt, es gibt dabei nicht nur Rückenfilets. Es kommt immer wieder vor, dass Trophäenjäger Wild genau wegen der Trophäen jagen, das Fleisch nicht von Interesse ist und der Kopf vor Ort abgeschärft wird. Dann bleibt der Wildkörper liegen und vergammelt. Leider kommt es auch vor, dass Jagdgegner Tiere jagen und die Trophäe abnehmen, damit sie der böse Jäger nicht bekommt – und lassen den Wildkörper liegen. Weder hier noch da ist die Ehrfurcht vor dem Leben gegeben, es geht nur um eigene Interessen. Verantwortungsvolle Jäger haben eine Aufgabe, die nicht nur dem eigenen Interesse dient, sondern ebenso dem der Allgemeinheit. Jagdgegener haben dies leider nicht im Blick, Wilderer geben dem Nahrung. Auch das ist verantwortunglos.

  • Andus Emge 7. Februar 2016

    Danke an Christina Schneider für den vernünftigen Kommentar. Respekt und Würde, dies sind zwei wichtige Begriffe, vor allem auch nach dem Schuss. Zu empfehlen ist hier ergänzend dazu auch die Lektüre des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset “über die Jagd”, der hier tiefere Einsichten in die Natur des Menschen und der Jagd bietet.

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